Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

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Die Festivalstadt am Neckar

 

Stellen Sie sich vor, was es bedeuten würde, wenn eines Tages der Frühling in Heidelberg als selbständiger Begriff beinahe so attraktiv würde, wie es vorher nur das Heidelberger Schloss war." Nein, sagt Thorsten Schmidt, dieses Zitat kannte er bislang nicht. Aber es gefällt ihm ganz ausgezeichnet. Kein Wunder. Der studierte Volkswirtschaftler ist Mitbegründer und Intendant des Musikfestivals "Heidelberger Frühling", das seit 1996 besteht und mit dem alljährlich die Festspiel- und Festivalsaison der Stadt am Neckar eröffnet wird. Deutschlandweit hat es sich bereits einen Namen gemacht - die Programme der letzten Jahre lesen sich wie ein who is who der klassischen Musik: das London Symphony Orchestra unter Leitung von Sir John Eliot Gardiner gastierte hier schon, bedeutende Interpreten und Weltstars von Christine Schäfer bis Arcadi Volodos gaben und geben sich in den Monaten März und April die Klinke in die Hand. Doch Thorsten Schmidt denkt in noch größeren Dimensionen. Sein Festival, so die längerfristige Perspektive, soll auch international noch deutlicher wahrgenommen werden. Dann würde es wohl tatsächlich dem Schloss Konkurrenz machen.

Die eingangs zitierte Vision stammt übrigens von dem ehemaligen Heidelberger Verkehrsdirektor Erich Schlenker. 1960 referierte er vor dem Gemeinderat über neue Möglichkeiten im Tourismus-Sektor. Mit dem "Frühling" nahm er freilich noch nicht die gleichnamige Musikveranstaltung unserer Tage vorweg, sondern meinte - ganz wörtlich - eben diese Jahreszeit, die der Stadt einfach gut zu Gesicht stehe. "Heidelberg ist selbst eine prächtige Romantik; da umschlingt der Frühling Haus und Hof und alles Gewöhnliche mit Reben und Blumen, und erzählen Burgen und Wälder ein wunderbares Märchen der Vorzeit, als gäb' es nichts Gemeines auf der Welt", hatte bereits im 19. Jahrhundert der Dichter Joseph von Eichendorff, ein Heidelberg-Alumnus, seinen Studienort gepriesen. Schlenker schwebte rund hundertfünfzig Jahre später eine entsprechende Bepflanzungsaktion vor, mit der die Stadt am Neckar ganz gezielt in ein (romantisches) Blütengewand gekleidet werden sollte - um damit noch mehr Touristen in die Stadt zu locken.

Ein nachhaltiger Erfolg war diesen Überlegungen allerdings nicht beschieden. Viel eher schon konnten die 1974 reaktivierten Schlossfestspiele, deren Wurzeln bis in die 1920er Jahre zurückreichen, für sich reklamieren, Gäste von außerhalb anzulocken, die dieses Angebot zur Abrundung ihres Heidelberg-Besuchs auch dankbar wahrnahmen. Und tatsächlich gehört es - nicht nur am Neckar - oft zu den Zusatzaufgaben großer Festivals, etwas für die Tourismus-Rate zu tun, zumindest dann, wenn Gelder der Stadt zur Finanzierung beitragen. Das bestätigt auch Thorsten Schmidt: "Der 'Frühling' ist so angelegt, dass wir die Chance, die Heidelberg touristisch bietet, auch nutzen wollen. Auch wir liefern damit einen Beitrag zur nationalen und internationalen Vermarktung Heidelbergs. Es wäre ein großer Fehler, diese Komponente nicht im Hinterkopf zu haben", erklärt er.

 

Auf der anderen Seite steht natürlich das künstlerische Profil. Festivals wollen sich gegenüber der kulturellen Alltagskost abheben, für einen kurzen Zeitraum etwas ganz Besonderes auf die Beine stellen. Beim "Heidelberger Frühling" geschieht das zum einen durch die Verpflichtung geballter Musikprominenz, deren Namen man ansonsten nur sehr selten in den Heidelberger Konzertprogrammen findet. Zum anderen wurde von Anfang an versucht, der Veranstaltung ein markantes Profil zu verleihen. Die alljährlichen Schwerpunktthemen - "Das Eigene und das Fremde" zum Beispiel in diesem, "Zwischentöne" im nächsten Jahr - ziehen sich wie ein roter Faden durch das Programm. Hinzu kommen thematische Blockveranstaltungen: das "Heidelberger Atelier" beispielsweise - Plattform und Diskussionsforum für Neue Musik, bei dem auch Kompositionsaufträge erteilt werden - oder auch ein mehrtägiges Streichquartettfest. Wie die Kooperation mit dem amerikanischen Sänger Thomas Hampson zeigt, der bereits einen Meisterkurs im Rahmen des Festivals gegeben hat, möchte man so genannte große Namen nicht immer nur für einen Konzerttermin verpflichten, sondern darüber hinaus deren Erfahrung (und vielleicht auch Kontakte) für das Gesamtfestival nutzen, sie idealerweise mit in die Konzeption einbinden. "Hampson", erzählt Schmidt, "ist mit dem 'Heidelberger Frühling' inzwischen fest verbunden. Wir treffen uns regelmäßig, wir planen Projekte, auch für nächstes Jahr." Andere Künstler sollen in Zukunft ähnliche Rollen übernehmen.

Ein bisschen erinnert die gesamte Konzeption an das berühmte Kammermusikfest Lockenhaus im österreichischen Burgenland, das 1981 von dem Geiger Gidon Kremer gegründet wurde, der ebenfalls bereits beim "Heidelberger Frühling" aufgetreten ist. Auch dort gibt es jedes Jahr ein Schwerpunktthema, auch dort nimmt man die Neue Musik ernst, die bei vielen Glamour-Festivals - wenn überhaupt - ein Schattendasein fristet. Und es gibt noch ein paar Parallelen mehr, die Nachwuchsförderung beispielsweise. Allerdings in einem Punkt unterscheiden sich die beiden Musikveranstaltungen. Im kleinen Lockenhaus ist die dortige Burg - markante Erhebung der kleinen Gemeinde - Hauptveranstaltungsort. Das Heidelberger Pendant jedoch wird nicht vom "Frühling" genutzt, der sich auf kleinere und größere Spielstätten in der ganzen Stadt verteilt - vom Studio der Villa Bosch bis zur Stadthalle. Dafür mag es eine pragmatische Begründung geben: Das Heidelberger Schloss ist in erster Linie ein Ort für Freiluftveranstaltungen, also - trotz Klimawandels - eher nichts für die Monate März und April. Vor allem aber ist das Schloss als beeindruckende Kulisse das Markenzeichen für die nach diesem Bau benannten Festspiele, die in den Sommermonaten stattfinden.

Ursprünglich allein dem Sprechtheater gewidmet, ist das Programm gerade in den letzten Jahren erheblich erweitert worden. Neben dem Schauspiel stehen inzwischen Oper, Operette, Tanz, Kinder- und Jugendtheater oder Konzerte auf dem Programm - ganz spezielle Höhepunkte der Schlossfestspiele sind seit kurzem auch Stummfilmaufführungen mit Kinoorgelbegleitung oder Live-Orchester - in diesem Jahr wird beispielsweise Charlie Chaplins "Goldrausch" gezeigt. Ein hübsches Gemischtwarensortiment wird dem Publikum da präsentiert - es spiegelt das breit gefächerte Angebot des (Mehrsparten-)Theaters der Stadt Heidelberg, das als Veranstalter auftritt. Und die Erweiterung in den letzten Jahren betraf auch die Spielstätten. Früher waren es lediglich der Schlosshof sowie der Königsaal (nicht zuletzt als Ausweichquartier bei schlechtem Wetter), die für Veranstaltungen genutzt wurden. Heutzutage verteilt man sich über das gesamte Schlossgelände: Dicker Turm, Englischer Bau, Obere Bäderterrasse oder auch die Schlosskapelle wurden zuletzt als neue Spielstätten entdeckt.

Und dieses durchaus einzigartige Ambiente, idealerweise in Verbindung mit einer lauen und vor allem trockenen Sommernacht, ist sicherlich die größte Trumpfkarte der heutigen Schlossfestspiele. Richtige Stars sucht man hier nämlich vergeblich. Das Programm ist nicht anspruchslos, gleichzeitig besteht aber nicht der Ehrgeiz, ehrwürdigen Institutionen wie den Salzburger Festspielen Konkurrenz zu machen, wie das in den 1920er Jahren noch der Fall war. Stattdessen darf durchaus auch leichter verdauliche Kost angeboten werden. Die Zugnummer beispielsweise war seit den 1970er Jahren bis vor ein paar Jahren noch "The Student Prince" - ein einst erfolgreiches Broadway-Musical, das auf dem Theaterstück "Alt-Heidelberg" beruht und vom einem an der Ruperto Carola studierenden Prinzen handelt, der sich in eine Kellnerin verliebt. Doch gerade bei Teilen des ortsansässigen Publikums stieß dieser Prototyp "Heidelberger Limonadenromantik" (Ernst Toller) zunehmend auf Akzeptanzprobleme. Nachdem es zwischenzeitlich schon mal ganz vom Spielplan verschwunden war, kommt es in diesem Sommer lediglich vier Mal auf die Bühne. Die Begründung, die Operndirektor Bernd Feuchtner kürzlich formulierte, klingt einleuchtend: "Unter den Touristen werden die Amerikaner immer weniger, und auch bei ihnen ist der 'Student Prince' in der jüngeren Generation nicht mehr der Mythos wie früher." Feuchtner verweist darauf, dass es auch "andere tolle Sommerstücke" gebe und hegt die Hoffnung, dass ja vielleicht auch mal ein "neues Heidelberg-Musical" geschrieben wird.

 

Das Theater der Stadt Heidelberg ist im Übrigen auch gar nicht auf die Schlossfestspiele angewiesen, um sich künstlerisch noch stärker zu profilieren. Denn dafür gibt es schließlich den ebenfalls hauseigenen "Stückemarkt", der jeweils Anfang Mai über die Bühne geht. Die knapp zweiwöchige Veranstaltung, die Intendant Peter Spuhler als "Blick in die Zukunft des deutschen Theaters" charakterisiert, zählt zu den bedeutendsten Festspielen für junge Dramatiker in Deutschland. Hier gibt es viele Uraufführungen zu sehen, im Autorenwettbewerb konkurrieren Autoren aus unterschiedlichen Nationen um angesehene Förderpreise. Präsentiert wird jedes Jahr außerdem ein europäisches Gastland, in diesem Jahr war es Rumänien.

 

In gewisser Weise die Fortsetzung des Stückemarkts im Bereich der Filmkunst ist das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg im Herbst, das inzwischen auf eine mehr als fünfzigjährige Geschichte verweisen kann - deutschlandweit hat nur die Berlinale in der Bundeshauptstadt mehr Jahre auf dem Buckel. Auch hier wird mit Premieren gelockt. "Die guten Sachen rauszupicken", gehört zu den bevorzugten Aufgaben von Festivalleiter Michael Kötz. Es versteht sich als Forum für junge Independent-Regisseure aus aller Welt. Auch hier gibt es mehrere Preise zu gewinnen, mit denen Nachwuchs-Filmemacher gefördert werden sollen. Stolz verweisen die Macher darauf, dass heute etablierte Künstler wie Francois Truffaut, Wim Wenders, Jim Jarmusch oder auch (der bereits verstorbene) Rainer Werner Fassbinder ihre ersten Filme im Rhein-Neckar-Delta vorgestellt haben.

Heidelberg ist übrigens erst seit 1994 als Partner des Filmfestivals dabei, nachdem die Mannheimer Veranstaltung in den 1980er Jahren in eine finanzielle Krise geraten war. Ebenfalls nicht nur hier, sondern zugleich in Mannheim und Ludwigshafen zu Hause, ist schließlich das "Enjoy Jazz-Festival", mit dem die hiesige Festivalsaison alljährlich im November ausklingt. Dessen Musikbegriff ist einigermaßen weit gefasst: Bereiche wie Weltmusik, Elektronik, Dancefloor oder Rock finden ebenso Berücksichtigung wie sämtliche Spielarten des Modern Jazz. "Letztlich ist es wirklich Gefühlssache, was wir in unser Programm aufnehmen", beschreibt Rainer Kern, Initiator und Leiter des Festivals, die alljährliche Zusammenstellung. Und mit dem Gefühl scheint es zu stimmen. Immer wieder gelingt es den Veranstaltern, etwas ganz Außergewöhnliches an Land zu ziehen. So beispielsweise 2005, als man Altmeister Ornette Coleman, eine der Ikonen des Avantgarde-Jazz, zum ersten Mal nach jahrelanger Abstinenz wieder zu einem Konzert nach Deutschland locken konnte. Mit ihm kamen Jazz-Kritiker aus ganz Europa angereist, um diesem Ereignis beizuwohnen, und ein Jahr später brachte der Saxophonist (der manchmal auch Trompete und Geige spielt) das Konzert auf CD heraus: "Sound Grammar", seine erste Veröffentlichung seit zehn Jahren. Sie bescherte ihm neben vielen enthusiastischen Rezensionen inzwischen auch einen Grammy und sogar den renommierten Pulitzer Preis, der zuletzt vor fünfzig Jahren an ein Werk, das nicht aus dem Bereich der klassischen Musik stammt, gegangen war.

 

Mehr als 50 Konzerte stehen in diesem Jahr in den sechs Wochen auf dem Konzertprogramm von "Enjoy Jazz". Komplettiert wird es durch Matineen sowie Vorträge. Und auch die "Masterclasses" mit gastierenden Jazzmusikern, die letztes Jahr Premiere hatten, sollen wieder stattfinden. Von vergleichbaren Veranstaltungen unterscheidet sich das Festival nicht zuletzt dadurch, dass es über einen sehr langen Zeitraum geht und es jeweils nur ein Konzert pro Abend gibt. Gerade dieser Punkt ist Rainer Kern, der übrigens an der Ruperto Carola Chemie studiert hat und bereits als Jugendlicher den Jazz für sich entdeckte, besonders wichtig. "Früher haben mich Jazz-Festivals eigentlich immer abgeschreckt", erzählt er.

Und berichtet von nicht so guten Erfahrungen beim berühmten "North Sea Jazz Festival" in Holland, wo an drei Tagen über hundert Konzerte zum Teil parallel stattfinden. Auch das frühere Heidelberger Jazz-Festival in der Stadthalle, wo auf mehreren Bühnen gleichzeitig gespielt wurde und im Publikum ein permanentes Kommen und Gehen herrschte, geht in diese Richtung. Konzentration bei Künstlern und Konzertbesuchern kann da nicht wirklich aufkommen.

 

Die Ausdehnung der Spielstätten auf mehrere Städte ist möglicherweise der Trend in der Festivallandschaft dieser Region. Das Filmfestival und das "Enjoy Jazz-Festival" haben es vorgemacht, auch der "Heidelberger Frühling" ist in diesem Jahr bereits schon fremdgegangen, nämlich nach Ludwigshafen. Allein bei den Schlossfestspielen wird das wohl aus nahe liegenden Gründen nicht funktionieren. Für Peter Spuhler, den Heidelberger Theaterintendanten, sind aber Ableger des "Stückemarkts" an anderen Orten gut vorstellbar, ebenso, dass umgekehrt beispielsweise "die Schillertage nicht nur auf Mannheim beschränkt bleiben". Eine Erweiterung der einzelnen Festspielstädte - auch die "Schwetzinger Festspiele" gastierten in diesem Jahr mit drei Konzerten in Speyer - zur "Festivalregion Rhein Neckar" winkt da also am Horizont, als Marketingkampagne wurde sie bereits in diesem Jahr geboren. Zum Angebot gehören auch die zahlreichen anderen attraktiven Festivals der Region, wie beispielsweise das Schwetzinger Mozartfest. Aufpassen muss man da wohl lediglich, dass das individuelle Profil nicht zu sehr verwässert wird. Doch dagegen stehen die besonderen Reize der einzelnen Festspielstätten der Region - lauter Unikate.

 

Oliver Fink

 

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Fragen oder Anregungen zu diesen Seiten: Philippe Bayer
Stand: 14. August 2007
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