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   ALUMNI REVUE - JULI 1997
       

    
    
 

Titel


Die deutsche Sprache

Zwischen Handschrift und Rechtschreibreform

Seit einem Jahr ist Deutschland in Aufruhr. Bürgerinitiativen wollen vor Gericht ziehen, Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen protestieren, Schriftsteller und Künstler bekunden ihre Abscheu und befürchten das Schlimmste. Was ist passiert? Es geht weder um Umweltverbrechen, noch ist die deutsche Demokratie gefährdet. Stein des Anstoßes ist ein Stück Papier: Am 1. Juli 1996 unterzeichneten die politischen Vertreter der deutschsprachigen Staaten eine "Gemeinsame Erklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" - die Rechtschreibreform. Kritiker ereifern sich über das Regelwerk, das angeblich viele Millionen Mark koste und die deutsche Sprache mit allerlei Veränderungen "verhunze". Manche Sprachwissenschaftler hingegen sind enttäuscht: Es sei nur ein "Reförmchen" geworden, ohne die Orthographie wirklich zu erneuern. In jedem Falle hat die Debatte viele Menschen verunsichert, vor allem die Älteren. Auch wer Deutsch als Fremdsprache erlernt hat, könnte durch die Reform vielleicht "ins Stottern" kommen. Oder etwa nicht?

Von Glossen, Goethe und Grammatikern

"Vor der Folie der jahrhundertelangen Entwicklung der deutschen Sprache handelt es sich hier doch um eine Kleinigkeit", wundert sich Armin Schlechter über die Aufregung um die Rechtschreibreform. Denn schließlich ist der erste Versuch, die deutsche Rechtschreibung amtlich zu regeln, gerade einmal knapp hundert Jahre alt. Der promovierte Germanist und Historiker sieht sich nicht gerade als Freund der Reform. Er ist es aber gewohnt, in anderen Dimensionen zu denken - als Leiter der Handschriftenabteilung der Heidelberger Universitätsbibliothek (UB).

An den handschriftlichen Quellen läßt sich besonders gut ablesen, wie sich die deutsche Sprache allmählich herausbildete." Zunächst fanden sich in lateinischen Texten einzelne germanische Wörter. Um die Zeit Karls des Großen tauchten dann die sogenannten "Glossen" auf: Wörter, die man als Verständnishilfen in lateinische Texte hineinschrieb. Die "Glossen" wurden auch als das "Ringen um die Eindeutschung des christlichen Wortschatzes" bezeichnet. Wenig später entstanden die ersten althochdeutschen Texthandschriften. Im späten Mittelalter wurden die Handschriften abgelöst von frühen Drucken, den Inkunabeln: So nennt man die Erzeugnisse der Druckpresse bis zum Jahr 1500. Die deutsche Sprache emanzipierte sich, die Lesekundigen, darunter mehr und mehr Bürger der wachsenden Städte, wollten "Stoff" - zumeist Übersetzungen französischer Romane.

Der Buchdruck in der Reformationszeit schließlich sorgte für eine weite Verbreitung und für eine gewisse Normierung: Die Sprache des Bibelübersetzers Martin Luther dominierte zusehends. Ein Zeugnis des Zeitalters der Glaubenskämpfe ist der bekannte "Heidelberger Katechismus", an dessen Abfassung die damals evangelische Universität maßgeblich beteiligt war. Im Barock hingegen herrschte die orthographische Vielfalt-politische Wirren und barockes Denken waren dafür verantwortlich. Dem entgegen stemmten sich die deutschen Grammatiker von Opitz bis Gottsched. Sie versuchten nach lateinischem Vorbild Sprachregeln aufzustellen. "Die Klassiker der Literatursprache, also Lessing, Goethe und Schiller, verankerten dann die deutsche Standardsprache in ihren Ausdrucksformen und Ausdrucksmitteln", resümiert der Sprachwissenschaftler Prof. Klaus Mattheier vom Germanistischen Seminar der Heidelberger Universität. Doch sollte man sich hüten zu behaupten, die Dichterfürsten hätten das beste Deutsch gesprochen: Der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe zum Beispiel konnte sich im thüringischen Weimar nur schwer verständlich machen. Der Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts schließlich verlangte nicht nur einen deutschen Staat, sondern auch eine einheitliche Sprache. Um die Jahreswende 1901/02 wurde die Rechtschreibung normiert und als Rechtsverordnung amtlich. Seither gab es immer wieder erfolglose Reformversuche, bis die Rechtschreibreform 1996 durchgeführt wurde.

Schätze in den Tresoren

Die älteste althochdeutsche Handschrift im Besitz der UB ist die Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg, die um 870 entstand. Insgesamt 848 Zeugnisse der deutschen Schriftkultur verwahrt die UB in ihren Tresoren - der weltweit drittgrößte Fonds. "Das ist ein Schatz, dessen Wert nicht mehr mit Marktpreisen faßbar ist", bemerkt Armin Schlechter, der übrigens auch ein Heidelberger Alumnus ist, nicht ohne Stolz. Mit sieben Mitarbeitern wacht er als Herr der Handschriften über einen wichtigen Teil des kollektiven Gedächtnisses der deutschen Sprache und Kultur. Seine Abteilung pflegt und restauriert außerdem die alten Bücher im Besitz der UB und erschließt Nachlässe verschiedenen Ursprungs, unter anderem auch die Sammlung deutscher Volkslieder "Des Knaben Wunderhorn" von Clemens Brentano und Achim von Arnim, die hier in Heidelberg entstand.

Die zu Recht berühmteste Handschrift der UB ist der Codex Manesse. Nach dem Züricher Adelsgeschlecht der Manesse benannt, enthält er mit fast 6000 Strophen von 140 Autoren die umfassendste Sammlung deutschsprachiger Lieder des Mittelalters. In der deutschen Überlieferung gibt es nichts Vergleichbares. Alle bekannten Genres der Lieddichtung vor dem Jahr 1330 sind hier erfaßt - darunter Werke von Meisterdichtern wie Walther von der Vogelweide, Neidhart von Reuemal oder Reinmar von Zweter. Die Lieder sind nach Autoren geordnet und mit ganzseitigen Bildern geschmückt. Spätestens im 16. Jahrhundert gelangte der Codex Manesse nach Heidelberg. Er war Bestandteil der Bibliotheca Palatina, der "Mutter aller deutschen Bi-bliotheken" in der Heiliggeistkirche. Kurfürst Ottheinrich (1556-1559) vereinigte die Bestände der Universitätsbibliothek und der Schloßbibliothek. Die Geschichte der Bibliotheca Palatina liest sich wie ein Krimi: mitten im Dreißigjährigen Krieg, 1622, in den Vatikan entführt. Geraubt - und zugleich gerettet, denn im Pfälzischen Erbfolgekrieg brannte die Heiliggeistkirche 1693 völlig aus. Die deutschen Handschriften gab der Papst im Jahr 1816 an die UB zurück. Der Codex Manesse hingegen war wohl in den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs ausgelagert worden und später nach Paris gelangt. Im Jahr 1888 erwarb ihn die Universität wieder. Seither hat sich die Universitätsbibliothek zu einer Institution entwickelt, die auf der einen Seite neuen Medien, online-Recherchen und weltweiter Vernetzung breiten Raum einräumt, auf der anderen Seite aber die Pflege ihrer Schätze nicht vernachlässigt - getreu dem mehrdeutigen Motto des Kurfürsten Ottheinrich: "Mit der Zeit".

Erste Station - zweite Heimat

Mit der "Zeit" lernen heute junge Ausländerinnen und Ausländer in Heidelberg Deutsch. Die Wochenzeitung dient ihnen als Grundlage für die Beschäftigung mit Grammatik und Vokabular. "Die Prüfungsordnung macht es erforderlich, daß vorwiegend populärwissenschaftliche Sachtexte Anwendung finden," weiß Dr. Walter Eckel, Leiter des Internationalen Studienzentrums (ISZ).

Von seinem Schreibtisch im Max-Weber-Haus direkt am Neckarufer koordiniert er die "erste Station" der ausländischen 300 und 400 Studierende aus aller Welt am ISZ ihr Deutsch (siehe Bericht Seite 7). Es wurde 1991 als zentrale Einrichtung der Universität Heidelberg neugegründet und umfaßt das Studienkolleg und das Kolleg für deutsche Sprache und Kultur, das 1992 im Max-Weber-Haus sein Domizil fand. Die sprachliche Vorbereitung auf das Fachstudium ist somit in einer einzigen Institution zusammengefaßt - einmalig in Deutschland. Dies ist das Verdienst von Eckels Vorgänger Prof. Diether Raff, der von 1984 bis 1996 im Amt war. In enger Zusammenarbeit mit dem Akademischen Auslandsamt erreichte er die Neugründung und Neustrukturierung.

Diether Raff fing 1964 im Studienkolleg als Dozent für Geschichte und Deutsch als Fremdsprache an. "Wir waren immer dazu da, den Studenten bei ihren ersten Gehversuchen zur Seite zu stehen", erinnert er sich. Es war die Ära Günther Röglers, der von 1960 bis 1983 das Studienkolleg mit großem Erfolg leitete. Der promovierte Historiker legte stets großen Wert auf ein persönliches Verhältnis zu seinen Schützlingen und lud sie regelmäßig vor den Prüfungen zu sich nach Hause ein - auch, um die Prüfungsangst zu mildern. "Für manche bin ich wohl eine Vaterfigur gewesen", meint Rögler und zitiert sinngemäß aus dem Brief eines ehemaligen Studenten. Große Bedeutung kam seit jeher kulturellen Aktivitäten zu. "Musik und Theater sind das beste Medium, die Sprache zu erlernen", weiß Diether Raff. Aber auch die Exkursionen waren sehr beliebt. Im allgemeinen wurden nähergelegene Ziele angepeilt. Im Jahr 1972 allerdings schaffte man es sogar über den Brenner und nach Venedig. "Das war eine tolle Erfahrung", schwärmt die Alumna Maryam Shariat-Razavi, wenn sie an die Exkursion in die Lagunenstadt zurückdenkt. Die gebürtige Perserin, die heute als Übersetzerin arbeitet, war 1971 nach Heidelberg gekommen. Das Studienkolleg empfand sie zunächst als eine sehr harte Zeit. "Anfangs haßte ich diese Sprache. Aber je mehr ich sie erlernte, desto mehr lernte ich, sie zu lieben." Sie fand so im Deutschen "eine zweite Heimat", wie sie selbst sagt.

Diether Raff kann das gut nachempfinden, hat er doch selbst als Student im französischen Montpellier seine "erste Jugendliebe und zweite Heimat" gefunden. Auch heute leistet das ISZ mehr als nur Sprachvermittlung und Administration. "Wir suchen nach wie vor das persönliche Verhältnis zu den Studierenden", meint Walter Eckel, auch wenn die familiäre Atmosphäre der Ära Rögler etwas verloren gegangen ist.

Der jetzige ISZ-Chef muß mehr Manager und Koordinator als väterlicher Freund sein. Mit einer Reihe von Initiativen und Sonderprogrammen versucht er, die Attraktivität deutscher Sprache und Kultur zu steigern. Denjenigen, die die Zukunft des "Standorts Deutschland" pessimistisch einschätzen, hält er seine eigenen Erfahrungen im Ausland entgegen: "Deutsche Kultur ist ein Exportartikel ersten Ranges." Das Kapital eines ressourcenarmen Landes steckt eben auch in seiner (Aus)Bildung. Angesichts solcher Fragen mutet ihn der Aufruhr um die Rechtschreibreform wie ein Sturm im Wasserglas an: "Wir haben derzeit noch ein paar wichtigere Themen."

Die Reform - Entrümpelung und Geschäft

Tagtäglich ein Thema, wenn auch bei weitem nicht das einzige, ist die Rechtschreibreform ganz in der Nähe der Alma mater, in Mannheim. Das Geschäft mit der Reform wird hier betrieben - sowohl wissenschaftlich als auch wirtschaftlich. Mitbeteiligt an der Reform ist das Institut für deutsche Sprache (IDS), eine staatliche außeruniversitäre Forschungseinrichtung, die früher auch unter der Leitung des Heidelberger Linguisten Rainer Wimmer stand. Seit März dieses Jahres ist das IDS Sitz der Rechtschreibkommission, eines zwölfköpfigen Gremiums von Wissenschaftlern, das die Reform begleitet (siehe Bericht Seite 8). Und nur ein paar Quadrate weiter hat die Duden-Redaktion ihr Domizil, die das wohl bekannteste deutsche Rechtschreiblexikon herausgibt. Wie es der Zufall so will, tragen auch hier Heidelberger Alumni Verantwortung. Die Sprachwissenschaftlerin Annette Trabold zum Beispiel, Pressesprecherin am IDS, promovierte 1992 an der Ruperto Carola. In der Pressestelle des Instituts für deutsche Sprache gehen die meisten Anregungen und Einwände zur Reform ein. "Die Aufregung um das Thema grenzt bei manchen Zeitgenossen ans Groteske", berichtet Annette Trabold. "Dabei ist die Reform eher der Entrümpelung eines Kellers vergleichbar: nützlich und sinnvoll, aber ohne Gefahr für das Fundament des Hauses."

Dem stimmt Dr. Matthias Wermke, Leiter der Duden-Redaktion und Heidelberger Alumnus von 1988, zu: "Sie räumt mit einigen berüchtigten Stolpersteinen auf." Für die Verlage hat sich die Reform bereits ausgezahlt. Hohe Auflagen (drei Millionen allein beim neuen Duden) sorgten für satte Umsatzzuwächse. Duden-Chef Matthias Wermke findet die Reform zwar nicht in allen Punkten gelungen, hält die Änderungen aber nicht für so gravierend, wie sie die Presse oft darstellt: "Jeder, der Deutsch kann, kann auch die Texte mit neuer Rechtschreibung lesen und verstehen." Die meisten Menschen betreffen die Rechtschreibregeln ohnehin nicht direkt, da sie nur für Schulen und Behörden verbindlich sind. Und Rechtschreibregeln allein machen die deutsche Sprache noch nicht aus. So sah es auch der schon erwähnte große deutsche Dichter Goethe: "Mir war die konsequente Rechtschreibung immer ziemlich gleichgültig. Wie dieses oder jenes Wort geschrieben wird, darauf kommt es doch eigentlich nicht an, sondern darauf, daß die Leser verstehen, was man damit sagen wollte. Und das haben die lieben Deutschen bei mir doch manchmal getan." Und nicht nur die Deutschen...

Peter Saueressig

 


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Heidelberg, den 23. Mai 2003